Meine Geburtsfrau

 

Wie habe ich meine Geburtsfrau erlebt?

Eishalt, brutal, mich hassend, mich schlagend, nicht liebend, mich ausliefernd an den Stiefvater, misshandelnd.

4.11.2012

Warum ist meine Geburtsfrau wie sie ist?

Ich mache mir Gedanken darüber, was dazu geführt haben könnte, dass eine Mutter die Hilfeschreie ihres eigenen Kindes nicht wahrnimmt.

Es geht nicht um Verzeihen, sondern nur um das Verstehen.

Auf dieser Seite sind lose zusammengefügt:

-Internetrecherchen über 1945,
-alte Originaldokumente im Ausschnitt,
-Zitate aus „Die geprügelte Generation“  I.Müller-Münch
-Erinnerungen zu Berichten von der Oma und der Tante,
-eigene Vermutungen über Traumatisierung der Mutter 
-meine ersten Lebensmonate und Ergebnisse der Bindungsforschung (neu)

Propaganda zur Kindererziehung im Deutschen Reich:       (aus „Die geprügelte Generation“)

Dr. med. Johanna Haarer, geb. 1900 schrieb Erziehungshandbücher,  darunter Propaganda von Nazis, mit Prügel zum absoluten Gehorsam, „Affenliebe zum Kind macht dieses verderblich.“ Beispiele sind Sätze: „ Entweder du spurst oder es knallt!“, „Entweder reißt du dich jetzt am Riemen, oder ich schlage dich windelweich!“
Johanna Haarers Bücher waren bis in den 80er Jahren bekannt, da noch über 1 Millionen Exemplare aufgelegt. Hauptaussage: „ Kinder sind chaotisch, bösartig und müssen deshalb gezähmt werden zu ihrem eigenen Besten.“

Viele Kriegstraumatisierten bauten auch durch die Prügeleien ihren Stress ab.

Das „Vicarous-Trauma“, das sogenannte Stellvertreter-Trauma ist die Tatsache, dass die Kinder das Kriegstrauma ihrer Eltern quasi für sich übernommen haben, sie durchlebten die ehemaligen Leiden der Eltern, als wären sie ihre eigenen Leiden gewesen.
Eltern wollen stets ihre Kinder beschützen, egal wie gewalttätig sie sich dabei geben. Sie sprechen aber nie über ihr Kriegserleben. So bleiben die geschlagenen Kinder immer mit der Frage zurück: Warum? Was habe ich falsch gemacht? Das Kind kann die Verbindung zwischen den Schlägen und dem, was die Eltern erlebt haben, einfach nicht herstellen.

Neben der körperlichen Gewalt ist die der seelischen Grausamkeiten genauso zerstörend. Psychoterror in den Familien zeigte sich durch Liebesentzug, Hausarrest, Schweigen, Demütigungen vor anderen, Bloßstellungen. Ein ständiges „Leise sein müssen“ vermittelt Kindern zu stören, in der Familie überflüssig zu sein. Es empfindet jeden Unfrieden in der Familie als eigene Schuld. Das Kind entwickelt in sich die Vorstellung. „Ich bin nicht richtig, egal wie ich mich anstrenge.“

Mai 1945 – meine Geburtsfrau ist 3 ½ Jahre alt

„Mittelalterlichem Kriegsrecht entsprechend wurde Demmin nach seiner Eroberung durch die Sowjetarmee im Mai 1945 zur vollkommenen Zerstörung freigegeben.
Die Schreckenszeit begann bereits im Herbst 1944, als die Rote Armee erstmals die Grenzen des Deutschen Reiches überschritt. Der Krieg, der 20 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete, kehrte in das Reich zurück und zeigte den Deutschen sein schrecklichstes Gesicht: Willkürliche Erschießungen, Vergewaltigungen und Plünderungen durch die Sowjetarmee waren von nun an der Tagesordnung. Hass und Rache fanden im vorpommerschen Demmin ihren Höhepunkt: Die alte Hansestadt wurde von sowjetischen Soldaten gebrandschatzt und die Einwohner terrorisiert. Doch der Hass und die Gewalt der sowjetischen Soldaten hatten ihren Hintergrund. Beim Vormarsch durch ihr zerstörtes Land mussten sie sehen, welche Verbrechen die Deutschen dem russischen Volk angetan hatten. Mit der Vertreibung der deutschen Invasionstruppen aus ihrem Land war für den einfachen russischen Soldaten das Ziel des „Großen vaterländischen Krieges“ zunächst erreicht. Zum weiteren Vormarsch in das Deutsche Reich selbst bedurfte es zusätzlicher Motivation für die Sowjetsoldaten. Reiche Beute wurde ihnen versprochen, wenn sie bis nach Berlin kämen, und der Besitz der Deutschen wurde zur Plünderung freigegeben, Frauen durften vergewaltigt werden.
Im sowjetischen Rundfunk wurde ausdrücklich zur Rache und Vergeltung aufgerufen. Ja, es gab sogar rituelle Hassgesänge. Die aufgeputschten Rotarmisten waren auch nach Kriegsende von der Armeeführung nur schwer unter Kontrolle zu bringen. Erst vier Jahre später, nämlich durch ein Gesetz vom März 1949, das Vergewaltigungen mit bis zu 15 Jahren Arbeitslager bestrafte und der Kasernierung der sowjetischen Truppen, bekam das Regime Stalins die sowjetischen Truppen in den Griff.“

Auszug aus dem  Befehl des Kommandanten der Roten Armee Major Petrow: Demmin, den 23. Mai 1945 – Befehl des Kommandanten der Roten Armee in der Stadt Demmin Nr.1 100
„Seit 19. Mai 1945 bin ich als Kommandant der Stadt und des Kreises Demmin eingesetzt.
Ich befehle:
1. Der gesamte vom Hitlerregime geschaffene Staats- und Verwaltungsapparat ist aufgelöst. Alle nach dem 30. Januar 1933 erlassenen Gesetze sind außer Kraft gesetzt. Der neue Landrat des Kreises, Müller, und der neue Bürgermeister der Stadt Demmin, Harz, haben unverzüglich alle Akten und das Eigentum der Stadtverwaltung und der Kreisverwaltung zu übernehmen und treten sofort ihre Ämter an…
4. Das Eigentum der oben genannten Partei und Staatsbehörden, namentlich Archive, Ausstattung, vorhandene Geldbeträge, sowie das persönliche Eigentum flüchtiger Leiter und Angehöriger dieser Organisationen wird beschlagnahmt. Personen, die versuchen, jegliche Art des obengenannten Eigentumes zu verstecken, zu vernichten oder sich anzueignen, werden mit aller Härte der Kriegsgesetze bestraft…

Der Kommandant des Kreises und der Stadt Demmin Major Petrow“

Erinnerungen meiner Oma (leider schon verstorben)  in Bruchstücken:

Der Opa war Steinmetzmeister der Stadt. Man besaß ein bürgerliches Haus, viele teure Maschinen und wertvolle Steine / Grabsteine. Als die Einwohner der Stadt flüchteten, wollte der Opa seinen Besitz nicht im Stich lassen. Die Familie     ( meine Geburtsfrau ist 3 ½, ihr Bruder mind. 5 Jahre älter, die Schwester rund 16 ) versteckte sich auf dem Dachboden ihres Hauses.
-die Russen stahlen vom Grundstück was zu bewegen war
-sie feierten im Haus Saufgelage und zerstörten dabei viel Inventar
-die Familie konnte durch Fußbodenritzen beobachten und zuhören
-Oma sprach von Vergewaltigungen ohne die Opfer zu benennen
-meine Tante äußerte mal, dass sie mit 16 vergewaltigt wurde

Meine Gedanken dazu über meine Geburtsfrau

Meine Geburtsfrau ist zu dieser Zeit ein Kleinkind von 3 einhalb Jahren. Über Wochen sitzt sie mit ihrer Familie eng zusammengepfercht auf dem Dachboden, abends ohne Licht. Man darf nur flüstern. Das kleine Kind sieht um sich herum nur angstvolle Gesichter, hilflose Eltern und Geschwister. Es muss sich von unten die Angstschreie und Schmerzensschreie der vergewaltigten Frauen mit anhören, wieder und wieder.

Fragen:

Lernt so ein kleines Kind, die Schreie von seiner Wahrnehmung auszublenden?
Ist es eine geistige Höchstleistung, um nicht an der eigenen Angst kaputt zu gehen?
Kann es sich zu einem Automatismus herausbilden, wenn man es zu lange trainieren musste?
Hat sie mit ansehen müssen, wie ihren Familienmitgliedern Gewalt angetan wurde?
Musste sie auch dies aus ihrer Wahrnehmung verdrängen, um nicht am Stress zu sterben?

Meine ersten Lebensmonate:

14 Tage nach der Geburt kam ich für zwei Wochen in ein katholisches Kinderheim, weil meine Geburtsfrau zurück ins Krankenhaus musste. Nach altem DDR-Recht musste sie 6 Wochen nach der Geburt wieder arbeiten gehen. Sie wollte nicht mit zwei kleinen Kindern morgens und nachmittags mit der Straßenbahn durch die ganze Stadt fahren zur Kinderkrippe ihres Betriebes direkt auf dem Betriebsgelände. Sie wollte dies nur mit einem Kind tun. (ältere Schwester) Sie fand aber keinen Kinderkrippenplatz für mich in Wohnungsnähe. Also steckte sie mich aus Bequemlichkeit dann noch über 5/6 Monate  in ein sogenanntes Wochenheim. Da wurde ich nur am Wochenende nach Hause geholt. Fazit: Länger als 6 Monate war ich ein Säugling mit ständig wechselnder Umgebung, ohne wirkliche Bezugsperson…..die Zeit des Verschmelzungswunsches mit der Mutter. Ich kannte nur das Warten in einem Kinderbett…warten auf Zuwendung. Die Wochenenden zuhause…das waren sicherlich für mich fremde Menschen….also habe ich bestimmt aus Angst viel geschrien. Und sicherlich habe ich keinerlei Bindungsansätze zeigen können.

Meine Geburtsfrau wurde also mit einem ständig schreienden, ängstlichen, fremdelnden Kind konfrontiert, das sich von ihr abwendet, weil es bisher keine Zuwendung, keine Sicherheit erfahren und kennengelernt hat. Für den Säugling war sie erst einmal wieder nur jemand Fremdes, der die Bedürfnisse nicht stillen wird. Ein Säugling, der monatelang irgendwo in einem Bettchen abgelegt war, nicht körperliche Nähe auskosten konnte, nicht sofortige Bedürfnisbefriedigung erfahren hat. Dieses Fehlen von diesen Sicherheiten hat wohl auch wieder und wieder den Säugling in Todesangst versetzt. Ja und nun wieder zuhause findet sich kein Blickkontakt, das Baby weicht dem aus, steckt voller Angst und Unsicherheit. Sicher hat meine Geburtsfrau dies als Ablehnung angesehen, woher sollte sie wissen um die wichtigste Zeit der Mutter-Kind-Bindung und die daraus entstehenden Probleme für ein Säugling. (obwohl es ja Instinkt sein sollte)
Dazu kommt der Gedanke, dass auch die Mutter ziemlich depressiv war, was eine Abflachung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und ihrer Zuwendungsfähigkeit bedeutete. Es konnte also von beiden Seiten keine Interaktion entstehen.
In dieser Zeit hat mein leiblicher Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau begonnen. Irgendwie schien die Frau Mutter die Gefühle dazu als Hass auf mich abzuladen, mein ganzes weiteres Leben lang!

Was macht dies mit einer Mutter? (PS: Das sind alles nur Vermutungen von mir.)

Sie zweifelt an sich selbst, frustriert und sieht das Kind mit Unbehagen an. Aber eben genau dieses Ansehen – dieses WIE man das Baby ansieht – findet im Kind einen Spiegel. Es spürt genau die Gefühle der Mutter. Am Ende kommt diese Ablehnung auf den Säugling zurück, der Kreis schließt sich.
Dazu der Gedanke an die Traumatisierung meiner Geburtsfrau in deren Kindheit.
Ist sie ein traumatisiertes Kind, das noch im Erwachsenenalter bei lauten Schreien dissoziiert? War ich deshalb nur ein ETWAS für sie? Etwas, dass sie nie lieben konnte (ihre Aussage)? Hat sie die Gewalt, die mir angetan wurde, gar nicht bewusst erleben können, weil der alte Mechanismus bei ihr einsetzte – ausblenden?

Steckt etwa darin die Tatsache, dass sie bis heute die brutale Gewalt an mich leugnet, und verlangt, dass ich es als lapidar ansehen soll?
Empfindet sie deshalb keine Reue……weil sie sich des Ganzen gar nicht wirklich bewusst ist?

Eines weiß ich mit Sicherheit schon lange. Ich war mein ganzes Leben (bis heute) das böse von den drei Geschwistern, weil ich rebellierte, weil ich darüber reden wollte, weil ich zu diesem Thema nicht locker lasse. Und meine Geburtsfrau wehrt sich nur deshalb gegen die Wahrheit, weil sie dann mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert werden würde. Aber das kann sie nicht zulassen, weil ihr eigener Schmerz zu groß wäre.
Bin ich das Opfer von einem Opfer??
Wie sagen Fachleute?
Traumatisierungen sind generationsübergreifend!
Das ist wohl wahr.

Zitat :       Märchen

Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und Erde über es hin gedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte es in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nichts, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.

21.11.2018

Ich bin der Geburtsfrau begegnet, nach 17 Jahren das erste Mal.

Es muss Februar gewesen sein. Ich stand in der Straßenbahn und zwischen uns nur noch eine sitzende Frau, mit der sich die Geburtsfrau unterhielt.
Kaum stand ich, erkannte ich die Stimme. Dann wagte ich einen Blick, mir blieb das Herz stehen vor Panik. Aufgedonnert wie immer, Gräfin „Koks“.
Sofort lief ich an das Ende des Waggons und atmete durch.
Stolz bin ich, dass ich nicht gleich panisch an der nächsten Haltestelle ausstieg. Ich konnte die drei verbleibenden Haltestellen aushalten.
Kaum ausgestiegen….rummms…..Zittern, Übelkeit und Geheule. Gut, dass ich auf dem Weg zu einem Artztermin war. Der Mann musste mein Chaos abfangen. Dennoch heulte ich noch den ganzen restlichen Tag durch, bis mir ein Gedanke einschoss:
„Warum verschwende ich für diese Frau Zeit? Warum lasse ich solch ein Fühlen zu?“
Ich holte meine zwei Puppen/Zwei Innenkinder aus dem Schlafzimmer und begann mit der Innen-Kind-Arbeit. Dafür nahm ich mir ganze zwei Stunden Zeit.
Die Kleinen beruhigten sich.
Nur drei Tage hat es gedauert, bis ich mich vollständig wieder ins Hier und Jetzt geholt hatte.
Und das Fazit dieser Begegnung?
ES KANN MIR NICHTS MEHR PASSIEREN!
Ich lebe noch!
Mir ist diese Frau völlig egal, ich habe keine Angst mehr!!!!!!!
Die befürchtete Begegnung ist erlebt und überstanden.

Nächste Treffen werde ich nur noch mit einem müden Lächeln abtun können.

4 Antworten to “Meine Geburtsfrau”

  1. sternendertrauer Says:

    Hm ich sehe es so du bist das Opfer einer Täterin die einmal Opfer war, so sehe ich es, ich hoffe ich trete dir damit nicht zu nahe. man hat einen willen, entscheidungsfreiheit, es werden so viele opfer nicht zu tätern, ein schwieriges thema ich habe daran auch zu kauen.

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  2. mundo2imaginario Says:

    Hallo,
    mir hat vor vielen Jahren mal jemand gesagt, dass es sehr erstaunlich ist, dass ich die traumatischen (Kriegs)Geschichten der Großmutter so gut und detailiert wiedergeben kann. Meine Antwort war damals so ähnlich wie „ich bin halt ein guter Zuhörer“, Erst später begriff ich, wie sich die unverarbeiteten Geschichten der Großeltern auf die nachfolgende Generation ausgewirkt haben und zwar mit schlimmen Folgen. Sie können wirklich stolz darauf, diesen Kreislauf durchbrochen zu haben.

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  3. Schnurri Says:

    Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich sowas lese, weil ( fast )alle meiner Täter auf irgendeine Weise Opfer sind weil Kriegs-oder Nachkriegskinder. Aber ich spüre gleichzeitig meinen persönlichen Schmerz. Sollte ich jetzt vergeben und verzeihen ? Jetzt meldet sich wieder das schlechte Gewissen, weil Niemand etwas dafür kann, wenn er zum Täter wird.

    Sollte mein Kommentar hier nicht angebracht sein, seid ihr dann so nett und löscht ihn? Ich möchte nicht, dass ein Leser dadurch innerlich stress bekommt.

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    • Mari Says:

      Du bist die Letzte, die ein schlechtes Gewissen haben muss! Egal wie schlimm meine Kindheit war … – ich kann mich doch entscheiden, wie ich als Erwachsene handle, oder? Ich werde sicher niemals vergeben können, und dafür schäme ich mich nicht. Bis heute habe ich noch kein „Tut mir leid.“ gehört. Im Gegenteil – man(Täter) sagt mir, ich würde einen Schuldigen suchen. Na logisch! Ich bin ja nicht als Kind schuldig an dem, was man mit mir anstellt.
      Als Erwachsene habe ich mein eigenes Kind ohne Gewalt oder Psychoterror erzogen, sondern nur mit Verständnis, Respekt und Liebe. Also an die Welt da draußen:
      Jeder ist für sein Handeln verantwortlich!

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